16.3.10

Gab mir ein Gott, zu sagen, was ich leide

"Päderasten sind unbelehrbar, wie alle wirklich Liebenden. In diesem Punkt sind sie dumm, und dumm sind auch die beflissenen Aufarbeiter, wenn sie von damaligen Exzessen sprechen - was Exzesse sind, sollte man beim Marquis de Sade nachlesen."
So schreibt Bodo Kirchhoff, der ein Leben lang darunter litt, nicht sagen zu können, was ihn so grundlegend verstörte, und der uns nun eine Ahnung von dem vermittelt, was es bedeutet, wenn erwachsenes Begehren und kindliche Sexualität aufeinander treffen.
Ich war zwölf, und ich war schmutzig - verdorben, sagte man damals, nicht ahnend, wie treffend dieses Wort ist. [...] hat meine Sexualität bis heute etwas Verwahrlostes, einen Mangel an Verbindlichkeit, dem ich ständig sprachlich zu begegnen versuche. [...] Doch erst die jetzige Debatte hat mich so zum Reden gebracht, dass es peinlich ist (für mich und die, denen ich nahe bin). Wie aber muss es da erst um die stehen, die trotz ihres Winnetous lebenslang keine Gelegenheit zur Spracharbeit hatten, weil sie normale Berufe ausüben?
(Diesen Text sollte man vollständig lesen und, wenn man wenig Zeit hat, besser auf die Lektüre dieses Blogbeitrags verzichten als auf den Text von Kirchhoff.)

Die Leiden eines alternden Genies, das sich in ein Mädchen verliebt, dem die Konvention keine Partnerschaft mit einem Übermächtigen aufdrängt, hat Goethe uns zu schildern vermocht. Nabokov hat die minderjährige Lolita zwar als Opfer, aber doch auch als Verführerin dargestellt. Alice im Wunderland von Lewis Carroll ist große Literatur. Und Alice Liddell hat darum gebeten, dass Carroll diese Erzählung niederschreiben solle. Über ihr Verhältnis zu Dodgson/Carroll hat sie sich aber nicht geäußert, auch nicht darüber, wie sie den Abbruch ihrer Beziehung zu Dodgson/Carroll 1863 erlebt hat. Wir wissen nicht, weshalb seine Erben seine Tagebuchaufzeichnungen aus dieser Zeit vernichtet haben. Auch Thomas Manns Tod in Venedig ist aus der Perspektive des Erwachsenen geschrieben. All diese Werke sind große Literatur, die die Perspektive des Kindes auslässt.
Hätte Adolf Muschg den Text von Bodo Kirchhoff gekannt, wäre ihm vielleicht erspart geblieben, neben den Täter auch den liebenden Erwachsenen zu stellen. Kirchhoff hat das Verhältnis überzeugender geschildert.
Dank an Kirchhoff, dass er uns gesagt hat, was er gelitten hat! Ist es wirklich ernüchternd, dass nicht "ein Gott", sondern "die jetzige Debatte" ihm ermöglicht hat, zu sagen, was ihm und denen, die ihm nahe stehen, noch heute so peinlich ist.
(Nachtrag vom 20.3.: Gerold Becker hat sich inzwischen nochmals entschuldigt.)

Erziehung braucht menschliche Nähe. Furchtbar, wenn die Nähe zu groß wird und die Menschenwürde von Opfer - und Täter - beschädigt. Wer in einem solchen Fall die Schuld trägt, ist klar. Deshalb Erziehung aufzugeben, wäre falsch. Aber was für eine Leistung die Erziehung in der Familie darstellt, wird in diesem Licht vielleicht deutlicher gesehen.

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