25.10.10

Über den Stand der deutschen Einigung - B. v. Weizsäcker: Die Unvollendete

Beatrice von Weizsäcker hat in ihrem Buch über "Deutschland zwischen Einheit und Zweiheit" viel Wissenswertes zusammengetragen: Axel Schmidt-Gödelitz mit seinem Projekt der Ost-West-Biographien, zum Beispiel, der sich auch um deutsch-türkische Biographien kümmert. Jana Hensel mit ihrem Buch Zonenkinder von 2002, die Stiftung Demokratische Jugend mit ihren Projekten. Eine Vielzahl weiterer Projekte. Schließlich gestehe ich, dass mir ihr Bericht über Udo Lindenbergs Sonderzug nach Pankow nützliche Informationen brachte, die ich beim Anblick der Sondermarke noch nicht mitbrachte.

Viele ihrer Urteile sind mir auch sympathisch. Eine Abqualifizierung von SED-Mitgliedern allein aufgrund der Tatsache, dass sie dieser Partei angehörten, steht meiner Meinung nach gut angepassten Karrieremenschen im Westen gewiss nicht zu. Aber wieso sieht sie nur bei Bündnis 90/Die Grünen eine gelungene Vereinigung von "westlichen" und "östlichen" Politikern? Werden in der SPD Genossen aus den neuen Bundesländern etwa diskriminiert? Gibt es in der Partei Die Linke einen Gegensatz zwischen West und Ost oder nicht viel mehr einen zwischen orthodoxen Marxisten und radikalen Linken? Nur im Osten geht es nach v. Weizsäcker den Linken um soziale Gerechtigkeit, im Westen dagegen sieht sie nur diffusen Protest (S.232).
Wirklich befremdet bin ich freilich erst, wenn sie formuliert "Die Weste der Ost-SPD ist tatsächlich rein." (S.241) Willy Brandt soll eine unreine Weste haben, weil er mit SED-Politikern gesprochen hat? Vieles kann man ihm vorwerfen; aber das nicht, wenn man denn wirklich für eine deutsche Einigung ist.
Zu Recht erinnert sie an Uwe Holmer, der in der Tat christliche Gesinnung bewiesen hat. Aber ich zweifle sehr, ob sie "Vergebung und Versöhnung", die sie für die Honneckers anmahnt, auch für die richtige Haltung der Kirche hält, wenn sie hohen SS-Offizieren die Flucht nach Argentinien ermöglichte.
Sehr zu Recht erinnert sie an die großartige Einrichtung der Wahrheits- und Versöhnungkommissionen in Südafrika und die Initiative von Ralf Wüstenberg , die Ähnliches für Deutschland anstrebte. Aber sie hat als Konzept nur zu bieten "Irgendwo zwischen Lobetal und Südafrika muss man sich treffen" (S.265). Unbestimmter geht es kaum.
Zustimmen kann ich wieder ihren Sätzen: "Versöhnung braucht Wahrheit. Wahrheit ohne Chance auf Versöhnung führt zu nichts." (S.265)

Den angemessenen Raum gibt sie Matthias Platzeck (S.214 ff) und seinem energischen Versuch, 20 Jahre nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes denen, die sich nach der sehr westdeutsch bestimmten Einigung (Übergehen des Artikels 146 des Grundgesetzes) gezwungenermaßen enttäuscht aus dem politischen Leben zurückgezogen hatten, Versöhnung anzubieten und zu ermöglichen (vgl. sein Aufsatz im Spiegel November 2009).
Ihre Kritik an Marianne Birthler, so sehr ich sie teile, scheint mir freilich entschieden zu harsch. Birthler Amtsmissbrauch vorzuwerfen, wäre übertrieben. Dass sie ihrer Aufgabe aufgrund ihrer persönlichen Einstellung nicht gerecht werden kann, scheint mir freilich deutlich.

Alles in allem hat Beatrice von Weizsäcker ein nützliches Buch geschrieben. Und ich könnte noch viel positiver darüber schreiben, gäbe es da nicht auch die Sätze "Darf es nur eine für alle gültige Geschichtsdeutung geben? Darf oder muss es nicht vielmehr verschiedene Auslegungen geben können. Ja, es darf und muss." und gleich darauf die ihnen völlig widersprechenden "Für die Zeit der Nazi-Diktatur ist die Frage der Geschichtsdeutung klar. Sie stellt sich erst gar nicht. Denn da gibt es nichts zu deuten." (S.266/67)

Sie ist keine Historikerin, deshalb bringt sie es fertig von dem "unsäglichen Historikerstreit" zu sprechen, "in dem es darum ging, Auschwitz zu relativieren" (S.25), als hätte nicht Jürgen Habermas den Streit mit genau der entgegengesetzten Absicht begonnen. Ich glaube ja an ihre guten Absichten. Aber hier hat das Lektorat versagt. (Vielleicht im Glauben, der Verfasser der Rede vom 8. Mai 1985 hätte das Manuskript schon gegengelesen.) Worum gingen denn die Diskussionen um die Thesen von Daniel Goldhagen und andererseits von Götz Aly wenn nicht um die Deutung dessen, was die NS-Diktatur möglich machte?

Nach dieser Unkenntnis über die Aufgabe von Geschichtswissenschaft wird man von Frau von Weizsäcker keine Antwort auf die Frage erwarten dürfen, welche Schwerpunkte man bei der unterrichtlichen Behandlung der DDR-Geschichte setzen sollte. Immerhin kann ich ihr zustimmen, wenn sie die pauschale Bezeichnung der DDR als Unrechtsstaat nicht als hilfreich ansieht. (Das SED-Regime als Unrechtsregime zu bezeichnen, wäre weniger missverständlich.) Dass sie aber die DDR-Geschichte nicht nur als die einer SED-Diktatur behandelt sehen will, hilft mir nicht weiter. Soll man die Erfüllung von Plansoll oder Hermann Kants Bücher loben oder den Volkaufstand vom 17. Juni, Robert Havemann und Wolf Biermann? Was es an Positivem gab in der Geschichte der DDR, etwa der politechnische Unterricht, war ja immer auch verbunden mit den hässlichen Seiten der SED-Diktatur. (Diese Aussage bedürfte freilich einer ausführlicheren Begründung als hier möglich.)
Die Unvollendete ist ein lesenswertes Buch. Das Wichtige ist, dass es Anstöße gibt, die einzelnen Schwächen sind demgegenüber unwichtig.

Nachtrag:
Bericht von einer Autorenlesung

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