2.3.12

Warum die Deutschen? Warum die Juden?

Götz Alys große Leistung für die Erforschung der Zeit des Nationalsozialismus war, dass er mit seinem Buch "Hitlers Volksstaat" zum Bild der Herrschaft durch Gleichschaltung und Terror auch das der Herrschaft durch das Zuckerbrot der sozialen Wohltaten (besonders während des Krieges) hinzugefügt hat. Er hat geholfen, diese Zeit differenzierter zu sehen. In seinem neuen Buch "Warum die Deutschen? Warum die Juden? -Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800 - 1933" (Frankfurt 2011, 352 S.) versucht er sich am Gegenteil: Das differenzierte Bild von der Entwicklung vom mittelalterlichen religiösen Antisemitismus über den Rassenantisemitismus des späten 19. Jahrhunderts bis hin zu den Vernichtungsplänen im nationalsozialistischen Deutschland versucht er mit der Hypothese eines seit der Judenemanzipation durchgehenden Sozialneids zu vereinheitlichen.
Nun ist es heute schon schwer, monokausale historische Theorien zu verkaufen. Doch er erschwert es sich unnötig. Mit Hilfe des eindrucksvollen Quellenmaterials, das er ausbreitet und das - jedenfalls für den Nicht-Fachmann - bisher Unbekanntes enthält, könnte er ja den Eindruck erwecken, dass er eine bisher unbekannte Seite des Antisemitismus im 19. Jahrhunderts entdeckt habe. Doch statt die Quellen sprechen zu lassen und durch sorgfältige Analyse Argumente zur Unterstützung seiner These herauszuarbeiten, gefällt sich Aly darin, die Werte, die die historischen Personen vertraten, nicht zu kritisieren, sondern sie emotional abzuwerten.
Ein Beispiel:
Ernst Moritz Arndt bezeichnet "das Scharfe, das Spitzige, das Geistige, das Schlaue und Pfiffige" (Arndt zitiert nach Aly, S.57) als typisch jüdisch und stellt es den - angeblich "deutschen Tugenden" - Treue, Einfalt, Ordnungsliebe und Frömmigkeit gegenüber. Statt nun aufzuzeigen, dass diese angeblichen Tugenden nicht ganz unproblematische Charakterzüge sind, formuliert Aly: "Arndt und seine Anhänger verherrlichten das Bedächtige, legitimierten den Hass des Tölpels und der Transuse auf die Regsamen und Behänden." (Aly, S.57 - Hervorhebung von Fontanefan). Doch damit nicht genug. Auf diese emotionalisierte Verzerrung baut er seinen Schluss auf: "Sie schufen den Boden, aus dem der spezifisch deutsche Antisemitismus erwuchs: national eintöniges Gleichheitsgebrause, Engherzigkeit und grämlicher Neid [...]" (S.57).
Was daran sollte denn "spezifisch deutsch" sein? Das Eintönige, das Gebrause oder die Grämlichkeit? Denn Sozialneid hat es nicht nur in Deutschland gegeben. Jedenfalls mach Aly keinerlei Versuch, das zu widerlegen.
Ein zweites Beispiel:
Die Marseillaise, in der bekanntlich unter anderem dazu aufgefordert wird, dafür zu sorgen, dass "ein unreines Blut unsere Saaten düngt", beschreibt Aly, wie folgt:
"In der französischen Hymne brechen Menschen auf, greifen zu den Waffen, streiten für die Freiheit, überwinden Tyrannen in der Revolution." (S.67)
Dagegen charakterisiert er die deutsche Nationalhymne, wie folgt: "Das Lied der Deutschen besingt die Kuhwärme nationaler Gemeinschaft [...]" (S.67)
Bei dieser Argumentationsweise fällt es schwer, ihm zu glauben, dass Aly etwas Neues herausgefunden hat, wenn er schreibt: "Auch deutsche Freiheitshelden und Demokraten ebneten Wege, die am Ende nach Auschwitz führten." (S.70)
Es ist bekannt, dass die deutsche Geschichte um Aufstieg des Nationalsozialismus und dann zur Schoa führte. Sie führte auch zu Luthers Reformation, zu den Angriffskriegen Friedrichs II. von Preußen, zu Hindenburgs Schlachten in Ostpreußen. Eine Kausalkette von Luther zu Hitler oder von der "Kuhwärme" des Deutschlandliedes zu Auschwitz zu ziehen, dazu berechtigt der historische Zusammenhang freilich noch nicht. Jedenfalls nicht, wenn nicht etwas präziser argumentiert wird.

Nun ist es nicht so, dass Aly nirgendwo ernsthaft argumentierte. Seine Behauptung, die Stärke der Sozialdemokratie habe "indirekt die innere Bereitschaft von Millionen deutschen Arbeitern, die Partei Hitlers zu wählen" gefördert (S.130) versucht er durch sechs Argumente zu erhärten:
1. Die SPD förderte durch "die Zwischentöne ihrer antikapitalistischen Programmatik das Gefühl, dass die Juden [...] stark genug seien, sich selber gegen Angriffe zu wehren." (S.130)
2. Die Sozialdemokraten förderten "den geistigen und materiellen Aufstieg ihrer Anhänger". "In der historischen Rückschau wird deutlich, dass deutsche Proletarier, die sich auf den Weg des Aufstiegs gemacht hatten, [...] in der Generation ihrer Kinder zu Anhängern der NSDAP werden konnten - einer Partei der Aufsteiger." (S.131)
3. Die Sozialdemokraten förderten durch die Forderung nach Umverteilung Neid und damit "einen Faktor, der, wie im Vorangegangenen gezeigt, das Entstehen der modernen Judenfeindschaft [...] in Deutschland angeheizt hatte" (S.131)
4. Die Sozialisten waren gegen Liberalismus. Durch ihre Forderung nach sozialer Gerechtigkeit "relativierten sie notwendigerweise die Werte der individuellen Freiheit" (S.131). Mit ihrer Formel vom Klassenkampf gewöhnten sie ihre Anhänger an eine "Freund-Feind-Optik" (S.132).
5. "Ersetzte man die Vorstellung vom entrechteten Proletariat durch die Vorstellung vom entrechteten und bedrohten deutschen Volk [...] war der Weg zur nationalsozialistischen Utopie nicht weit." (S.132)
6. Nach Plessner (1936) ist die Basis-Überbau-Theorie für andere Ideologien nutzbar.
Daraufhin kommt er zu dem Schluss: "An alle sechs der hier aufgeführten Grundelemente [...] knüpften [...] rechtsnationalistische Bewegungen an, teils mit veränderten Inhalten, teils mit verwandten." (S.133)

Alys Buch enthält eine Fülle von interessanten Informationen.
Aus meiner Sicht verbaut er sich freilich eine überzeugende Argumentation durch unnötige Emotionalisierung und vorschnelle Schlüsse.
Denn natürlich sehe ich in der Forderung nach Gerechtigkeit eine Relativierung der "Werte der individuellen Freiheit", nämlich genau in dem Sinn, dass Freiheit immer durch die Freiheit des anderen eingeschränkt ist.
Dazu sollte ich freilich eingestehen, dass für mich die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit aufgrund der Finanzkrise wieder sehr aktuell geworden ist und dass diese Forderung meiner Meinung nach durchaus nicht den Weg nach Auschwitz ebnen hilft. Ein weniger voreingenommener Leser wird von der Lektüre des Buches noch mehr profitieren, als ich es getan habe.

Diese Besprechung ist zuvor schon bei ZUM-Buch erschienen.

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