22.12.14

Pegida und "Deutschland postmigrantisch"

"Pegida" hat vollkommen recht: Die Regierung hat das Volk belogen.
So schreibt Anetta Kahane  völlig zu recht in der FR vom 22.12.14 und fährt fort: "Seit JAHRZEHNTEN KAM JEDE REGIERUNG MIT DER LÜGE, dass sich die Gesellschaft weder verändern werde noch müsse. [...] Die Regierungen sagten stets, Deutschland sei kein Einwanderungsland."
Warum sagten sie das? Weil in Deutschland Veränderung "nicht Hoffnung, sondern Angst" macht.

So weit treffend beobachtet und erfreulich überzeugend argumentierend geht es weiter. 
Nur der letzte Gedanke ist unvollständig und deshalb falsch.
Veränderung macht nicht nur in Deutschland "nicht Hoffnung, sondern Angst", sondern überall. Jedenfalls bei den Menschen die schlechte Erfahrungen gemacht haben. Veränderung macht aber auch Hoffnung. Den Gedanken verfolgt Kahane leider nicht weiter.
Hoffnung macht sie, wenn sie verspricht,dass der Grund für die Negativerfahrungen wegfallen wird. 

Jetzt kann man mit der Erzählung vom Rattenfänger kommen, man braucht es aber nicht.

Die Frage ist nämlich: Wer hat von den Veränderungen der letzten Zeit profitiert? 
In vieler Hinsicht alle. (Kahane zählt dazu manches auf, lässt freilich auch sehr vieles fort.) 
Aber in einer Hinsicht hat die große Mehrheit nicht profitiert. Das Pro-Kopf-Einkommen ist in Deutschland zwar durchschnittlich gestiegen, aber für die große Mehrheit nicht. Die durchschnittliche Steigerung ergibt sich, weil das reichste Prozent extrem profitiert hat (und  von diesem reichsten Prozent das allerreichste irrsinnig viel). 
Hoffnung käme auf, wenn der Eindruck entstünde, dass sich das ändern könnte. - Da das aber kaum einer glaubt (Die Allerreichsten schon gar nicht. Warren Buffet gehört zu den Ausnahmen, die die Regel bestätigen.), kommt ein zweites hinzu.
Von den Veränderungen der letzten Zeit haben auch Benachteiligte profitiert, wie Kahane zu recht aufzählt: Frauen, Migranten, Homosexuelle und andere.
Wieder hat die große Mehrheit nichts davon. Sie merkt nur, dass sie ein Stück Vorrechte gegenüber den Benachteiligten abgeben musste. (Wer gerne Vorrechte abgibt, weil er weiß, dass es gut für ihn ist, gehört erfahrungsgemäß nicht zur Mehrheit.)

Weil die Mehrheit - nicht unbegründet - glaubt, gegen die Reichsten und Allereichsten keine Chance zu haben, wendet sie sich nicht gegen die, die ihr den Hauptnachteil verschafft haben, sondern gegen die, die noch zu den Schwächeren gehören. 

Kahane meint nun, sie hätten mit ihrem "Rückzugskampf gegen die offene Gesellschaft" keine Chance und schließt optimistisch: "Die [offene Gesellschaft] lässt sich nicht mehr schließen. Nicht in einer Demokratie."

Eines scheint sie nicht bedacht zu haben: Die Demokratie ist nicht so stark, wie sie meint. Wenn die große Mehrheit zu der Überzeugung kommt, ihre Benachteiligung gegenüber den Reichen und Allerreichsten und ihr (relativer) Abstieg gegenüber den bisher Benachteiligten, lasse sich in einer Demokratie nicht beseitigen, dann wird sie die Demokratie beseitigen wollen. Und dafür wird sich gewiss jemand finden.
Jedenfalls gibt es auf der Welt genügend Beispiele dafür.

Deswegen warne ich davor, Pegida undifferenziert schlecht zu machen und als bösartig, dumm oder sonst etwas zu bezeichnen. Denn - wie Kahane zu recht feststellt:

" 'Pegida' hat vollkommen recht: Die Regierung hat das Volk belogen."

mehr zu Pegida
Ratsvorsitzender der EKiD will mit Pegidaanhängern reden
Ex-Kanzler Schröder fordert Aufstand der Anständigen gegen Pegida
Pegida und Anti-Pegida
Semperoper schaltet das Licht aus
Selbst ihr Weihnachtsmann ist wütend
Pegida ist erotisch

Dresden will Pegida nicht zum Feind
Viele Dresdner, die nicht Pegida sind, versuchen in diesen Wochen einen Spagat. Ablehnen, was an Pegida ausländerfeindlich ist, aber auf diejenigen zugehen, die da jeden Montag rumstehen – also mit ihren Füßen der Ausländerfeindlichkeit doch zustimmen; aber denen es doch vielleicht um etwas anderes geht, um Sorgen und Ängste; die es vielleicht gar nicht so meinen und die das vielleicht einsehen, wenn man mit ihnen redet und sich um sie kümmert. (ZEIT online 23.12.14
Ich frage mich: Wer legt fest, wofür jemand "mit den Füßen" stimmt? Im Zweifelsfall wird darüber in einem Rechtsstaat weder die Obrigkeit noch die Presse entscheiden, aber auch nicht die Person, die mit ihren Füßen etwas tut, sondern nach einem ordnungsgemäßen Verfahren ein unabhängiger Richter.

Gauck fordert mehr Schutz für Flüchtlinge  24.12.14
Flüchtlinge müssen eng zusammenrücken FR 24.1.214
Kretschmann will Dialog mit Pegida-Anhängern 26.12.14

Pegida gegen Journalisten: Wir machen dich platt! 30.12.14
"Die Pegida-Demonstranten wenden sich nicht nur gegen eine angebliche Islamisierung des Abendlandes, die „Patriotischen Europäer“ machen auch Front gegen die etablierten Medien: Was Journalisten bei Pegida-Demos erleben."

 Sascha Lobo: Soziale Netzwerke: Mit "uns" ist es vorbei 31.12.14
"Denn gerade im Zusammenhang mit den Pegida-Demonstrationen und deren im Internet nachprüfbaren Äußerungen ist überdeutlich geworden, dass es mit allzuvielen Inhabern einer solchen "nationalen Identität" kein gemeinsames Wertefundament gibt: "Abendland" ist nur ein Ort. Mit jemandem, der Journalisten droht, ihnen "Isis-mäßig die Kehle durchzuschneiden", möchte man nicht "wir" sein. Genauso wenig wie mit den Mördern des Islamischen Staats selbst."

Thomas Assheuer: PEGIDA – VEREINT IN WUT UND ANGST: Die nationale Querfront, ZEIT online 2.1.15
"Forscher erklären den Zulauf für populistische Bewegungen mit dem Gefühl, man dürfe als Bürger bei entscheidenden Fragen nicht mehr mitreden, man sei nicht mehr "repräsentiert". Es ist das Gefühl, ein Bündnis aus politischen und wirtschaftlichen Eliten regiere über die Köpfe der Menschen hinweg und lasse über Dinge abstimmen, die vorab "alternativlos" entschieden worden seien. [...]
Für Bundeskanzlerin Merkel existiert zur "marktkonformen Demokratie" ohnehin keine Alternative, ebenso wenig zu ihrem Exportschlager, der Austeritätspolitik. Vermutlich wird auch Sigmar Gabriel bald verkünden, zum Freihandelsabkommen mit den USA gebe es "keine Alternative", obwohl er dessen Schiedsgerichte im Wahlkampf noch heftig bekämpft hatte. Dabei weiß Gabriel genau, dass solche Schiedsgerichte die Demokratieverdrossenheit weiter anheizen, weil sie ganze Staaten zu Schadensersatz zwingen können: Was ist die Stimme des nationalen Wählers gegen das Drohpotenzial internationaler Finanzinvestoren?"

Weitere Erklärungsversuche zum Phänomen Pegida journalistisch aufbereitet in der ZEIT.
Trocken referiert in der Wikipedia.

Mehr zur angeblichen "Alternativlosigkeit" extremer sozialer Ungleichheit im Kapitalismus: Piketty: Das Kapital im 21. Jh.

Woran ich mich immer wieder erinnern will: Flüchtlingselend



Ich verlinke gern auch zu Texten, die meiner Auffassung widersprechen.

2 Kommentare:

Hauptschulblues hat gesagt…

"Ich verlinke gern auch zu Texten, die meiner Auffassung widersprechen." Das weiß ich.
In München waren heute 12000 (Polizei) bis 25000 (Veranstalter) Menschen auf der Gegenkundgebung. Ich auch.
Die Anhänger von P. sind rechte Idioten.

Walter Böhme hat gesagt…

Pegida ist eine Gefahr für die Demokratie. Die Anhänger sind teils rassistisch, teils totalitär strukturiert, teils fehlgeleitet.
Gegendemonstrationen sind wichtig, damit nicht noch mehr Unzufriedene glauben, hier wäre der starke Partner, an den man sich anhängen sollte.

Gut, dass du teilgenommen hast.
Mehr brauche ich wohl nicht dazu zu sagen.