19.7.15

Eurokrise - Griechenland-Deal

Jakob Augstein hat es in seiner Kolumne im Spiegel vom 18.7.15, S.20 hervorragend beschrieben:
Tsipras der tragische und heroische Held. "Ein Schuldenschnitt ist zwar nötig - aber er 'kommt nicht infrage' sagt Angela Merkel." Tsipras "muss sich der überlegenen Macht der Unvernunft geschlagen geben".

Freilich übergeht er dabei freilich das in sich rationale Kalkül der Gegenseite: Einen Schuldenschnitt werden die heutigen deutschen Wähler nicht honorieren. Also verschiebt man die Lösung* durch eine Verschiebung der Kreditrückzahlung in die Zukunft. Bis dahin kann viel passieren, z.B. kann die Inflation wieder steigen und der Schuldenberg zusammenschmelzen. Die neue Generation kann sehen, wie sie mit dem Problem fertig wird. Dann herrschen andere Prioritäten. Entweder schiebt man die Altlasten weiter vor sich her oder man räumt mutig damit auf (so wie z.B. de Gaulle mit der Algerienfrage).
Vermutlich ist diese Rechnung auch begleitet von einem zweiten Kalkül: Die bisherigen griechischen Regierungen haben immer Reformen zugesagt, sie dann aber boykottiert. Tsipras ist mit einem anderen Programm angetreten. Er will eine Lösung des Problems, kein dauerhaftes Lavieren.
Das bietet nun die Chance für die Gegenseite. Am besten kann harte Maßnahmen jemand durchsetzen, der sie glaubhaft um fast jeden Preis vermeiden möchte. Deshalb ist Tsipras aus der Sicht der Institutionen ideal zur Durchsetzung ihrer Ziele geeignet. Er will nicht lavieren, sondern eine Lösung. Man hält den Druck aufrecht und hofft, dass er das Unmögliche möglich macht (Beseitigung von Korruption, Schlendrian oder wie man es sonst abfällig nennen will, jedenfalls das griechische Verfahren der letzten Jahrzehnte, wenn nicht der letzten zwei Jahrhunderte). Wenn er es nicht schafft, dann ist wenigstens kein Parteifreund beschädigt, sondern eine böser Linker. Dabei bleibt immer noch die Wahl, ihm im letzten Moment noch eine kleine Chance zu geben, vielleicht rafft er sich noch zu einer besonderen Kraftanstrengung auf und kommt weiter auf dem Weg, den seit 200 Jahren niemand begangen hat.
Wo bleiben bei dieser Betrachtung die Differenzen von Schäuble und Merkel sowie Merkel und Hollande? Im großen Ziel können sie sich durchaus einig sein - so wie das Wahlplakat der CDU von 1999 für die Europawahl es darstellte* -, die Unterschiede liegen nur in den jeweiligen Rollen: Schäuble als Finanzminister hat sicherzustellen, dass Deutschland möglichst geringe finanzielle Verpflichtungen eingeht (koste es die Griechen, was es wolle). Merkel will vermeiden, als Totengräberin Europas in die Geschichte einzugehen. Und Hollande hat diesmal den angenehmeren Part, er darf für Hafterleichterung des Gefangenen Tsipras eintreten. (Gabriel kriegt ein bisschen Show für sich. Ganz auf Merkel-Kurs eingeschworen, darf er doch um Gnade für Tsipras bitten. Vielleicht besänftigt das den einen oder anderen SPD-Genossen.)
Die nächste Krise ist programmiert. Alle hoffen, dass sie erst beim Nachfolger akut wird.
Tsipras freilich weiß, dass er mit Solidarität der europäischen Partner nicht zu rechnen hat, nicht von den Parteifeinden, aber auch nicht von den Wählern in den Partnerstaaten. Bei aller Sympathie für den Benachteiligten, im Zweifel werden die nationalen Interessen bei den Wählern den Ausschlag geben.
Auch die Griechen mögen ihm zwar das Beste wünschen, werden ihn aber verlassen, wenn die Grenze ihres Opfermuts überschritten ist.* (Bei jedem einzelnen liegt sie woanders.)

* Generationengerechtigkeit  ist es nie, wenn man ein Problem auf die lange Bank schiebt. Ganz gewiss nicht beim menschengemachten Klimawandel (s. N. Klein), aber auch nicht beim Erbrecht (s. Th. Piketty), wo sowohl die Gerechtigkeit innerhalb der gegenwärtigen Generation als auch die der kommenden Generationen auf dem Spiel (J. Friedrich) steht.

"Europa ist wie wir: nicht immer einer Meinung, aber immer ein gemeinsamer Weg." - Spiegel vom 18.7.15, S.33. Man beachte das verbissene Gesicht des damals noch Parteivorsitzenden Schäuble und die optimistische Haltung Merkels, die sie heute - z.B. nach 17 Stunden Verhandlungen - manchmal weniger deutlich zur Schau trägt.

Bei Neuwahlen: Tsipras kann auf absolute Mehrheit hoffen, Spiegel online, 19.7.15

Warum die einfachen Wahrheiten nicht stimmen, blog.campact, 15.7.15

"Eine Zäsur" (Interview mit Claus Offe) Die ZEIT, 9.7.15; S.39
"Dann scheitert in Europa das wichtigste politische Projekt seit dem Zweiten Weltkrieg."

Deutschland hat nie bezahlt (Interview mit Piketty) Die ZEIT, 25.6.15, S. 24

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